Somatisches Lernen.

 

Jede gute Lernform beruht auf dem Wissen um die Arbeitsweise des Nervensystems. Eine bestimmte Logik des Gehirns ist der Auffassung, daß es immer leichter ist, zum Ausgangspunkt zurückzukeh­ren, als den Durchbruch zu vollziehen.

 

Die Feldenkrais Methode benutzt diese Logik. Wenn du zum Beispiel die seitliche Drehung des Kopfes erleichtern willstn, wird der Versuch, von der Mitte aus die Grenze der Drehung zu durchbrechen, die Beschränktheit dieser Bewe­gung in deiner Wahrnehmung lediglich verstärken.

 

Aber mache doch einmal Folgendes: Du drehst den Kopf nur ganz wenig zur Seite, innerhalb der Grenzen, die du für absolut bequem und sicher hälst, und halte ihn in dieser Stellung. Nun bringe den Kopf mit einer sanften Bewe­gung, die dein Vertrauen in Komfort und Sicherheit nicht erschüt­tern, etwas wieder mehr zur Mitte hin, dann lasse ihn ohne große Verzögerung gleich wieder ganz passiv zum seitlichen Ausgangs­punkt zurückrollen. Pausiere dort ein wenig.

 

Das ist der gleiche Bewegungsablauf, der sich sonst zwischen der Mitte und der Seite abspielt. Du ändern nur deine Einstellung dazu. Im Geiste hast du die Einstellung, daß diese Seite dein Zuhause ist. In kurzer Zeit wird dir das Gehirn tatsächlich dort das angenehme Gefühl gewähren, das es sonst nur für eine Heim­kehrin dein wahres Zuhause übrig hat.

 

Das ist ein Erfolg für den Körper, der nicht durch körper­liche Kraft erreicht worden ist, sondern durch die Weisheit, die Orientierung zwischen Ausgangspunkt und Schwelle zum Neuen auszu­tauschen.

 

Das ist somatisches Lernen.

 

 

Der denkende Körper und das Körpergedächtnis

 

Somatisches Lernen beruht auf dem engen Bezug des Lernens zum Körper. Während klassisch verstandenes kognitives Lernen vorwiegend auf denkender Ebene erfolgt, arbeitet somatisches Lernen mehrdimenisonal und bezieht mehrere Gehirnregionen ein, die wiederum mit dem gesamten Körper und seiner Umwelt vernetzt sind. Somatisches Lernen umfasst die Ganzheit einer Person.

 

Das Körpergedächtnis ist der Schlüssel somatischen Lernens. Unser Körper denkt, handelt und trifft Entscheidungen. Das meiste davon bleibt im Unbewussten verborgen. Bewusstheit ist wie ein Licht, das einen kleinen Teil der unbewusst ablaufenden Prozesse an die Oberfläche bringt.

 

Erkenntnisse der Neurowissenschaften zeigen, dass im allgemeinen mehr als 90% der Nervenzellen für „unbewusstes Denken“ (Körpergedächtnis, implizites Wissen) und weniger als 10 % für bewusstes Denken/Handeln (explizites Wissen) verfügbar sind. Je besser ein Körper im Gleichgewicht ist, desto mehr Neuronen sind frei für bewusstes Wahrnehmen und Denken.

 

Dies erklärt z.B. die Mattigkeit und Müdigkeit unseres Geistes, die spürbar ist, wenn unser Immunsystem stark gefordert ist und einen Teil der neuronalen kapazitäten für sich beansprucht. Je besser unser Körper strukturell ausgerichtet ist und je balancierter unser Haltungstonus ist, desto freier ist unser Kopf und umso klarer können wir denken.

 

Das Körpergedächtnis lernt immer. Alle Sinneseindrücke hinterlassen Abdrücke im Nervensystem. Während sich negative Erfahrungen wie Angst meist unbewusst als blockierende Anspannung im Körpergedächtnis manifestieren, sucht somatische Körperarbeit ganz gezielt nach neuen positiven Körpererfahrungen.

 

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Wahrnehmen, Spüren, Fühlen, Denken und Handeln

 

Durch die Verbindung von bewusstem Wahrnehmen, Spüren, Fühlen, Denken und Handeln entstehen neue neuronale Netzwerke, die uns erlauben, uns freier, ökonomischer und ökologischer zu bewegen, zu handeln, zu leben und zu SEIN.

 

Bewegung und Berührung sind die Grundlage aller menschlichen Entwicklungsprozesse. Der Heidelberger Philosoph und Phänomenologe Thomas Fuchs bezeichnet das menschliche Gehirn auch als ein „Beziehungsorgan“.

 

Somatisches Lernen ist die ureigenste Form des Lernens an sich. Die Geschichte somatischen Lernens ist daher so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst. Yoga, Tai Chi, Chi Gong, Aikido u.a. östliche Körperpraktiken haben einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung der neueren Methoden der westlichen Hemisphäre.

 

 

Intelligenz braucht eine Verkörperung in einem lebendigen System

 

Sehr zugenommen hat das Interesse am leiblichen Lernen um die Jahrtausendwende. Mit dem Ziel der Entwicklung künstlicher Intelligenz (artifical intelligence) im Umfeld der Computerforschung wurden großen Summen an Forschungsmitteln aufgewendet um im Endeffekt festzustellen, dass Intelligenz  ohne Verkörperung (embodiment) von Wissen nicht möglich ist.

 

Der Begriff „embodiment“ verbreitete sich ab diesem Zeitpunkt rasch. An den verschiedenen embodiment-Theorien wird  von verschiedensten Wissenschaftsbereichen aus geforscht. Noch weitgehend offen ist die Synthese der weitreichenden Erkenntnisse von Cognitive Sciences, Neuro-Sciences und der Sichtweise der Phänomenologie mit dem eigentlichen verkörperten Wissen jener Menschen, die sich seit vielen Jahrzehnten intensiv mit Körperarbeit befassen.

 

 

Bewusstsein schafft materielle Strukturen – materielle Strukturen realisieren Gedanken

 

Durch Achtsamkeit und bewusstes Wahrnehmen kann im somatischen Lernen, Einfluss auf innere im Körpergedächtnis liegende Haltungs- und Bewegungsmuster genommen werden.

 

Somatische Lernmethoden lenken in ihrem Lern-Setting die Aufmerksamkeit ganz gezielt auf bestimmte Aspekte der Körperhaltung, von Bewegungsmustern etc. um sie bewusst zu machen.

 

Durch verbale Anleitungen, oft durch Vorstellungsbilder unterstützt, können kleinste Veränderungen von Muskelanspannungen und andere kinästhetische Empfindungen wahrgenommen werden. Dies ist am besten in einem entspannten Zustand des Zentralnervensystems (Parasympathikus) aber gleichzeitig wachen Zustand des somatischen Nervensystems möglich.

 

Somatisches Lernen kann daher nie unter Stress stattfinden. Es handelt sich jedoch auch keineswegs um reine Entspannungsmethoden, da diese in erster Linie auf den Parasympathikus wirken und der Lerneffekt auf das somatische Nervensystem und Körpergedächtnis vernachlässigbar ist.

 

Das feine „in den Körper spüren“ bewirkt im Zeitverlauf eine Anpassung im Körpergedächtnis. Neue Haltungs- und Bewegungsmuster sind von der bewussten in die unbewusste Ebene gewandert und werden unmittelbar verfügbar. Sie sind nun im Körpergedächtnis abgespeichert.

 

Der menschliche Körper und Geist ist darüber hinaus so intelligent, dass im Lernverlauf auch die entsprechenden materiellen Strukturen wie Muskeln, Faszien, Knochen etc. an die neue Körperhaltung mitangepasst werden.

 

Das Erlernte ist „in Fleisch und Blut übergegangen“; Geist ist zu Materie geworden und der Verkörperungsprozess abgeschlossen. Wir haben uns als ganzer Mensch verändert und werden auch von aussen neu wahrgenommen.

 

Mit den nunmehr verfügbaren strukturellen/materiellen Ressourcen sind wir in der Lage, Gedanken zu realisieren, deren Verwirklichung uns zuvor nicht möglich gewesen wäre.

 

 

Somatisches Lernen als Neu-Erlernen

 

Somatisches Lernen versteht sich auch als ein Neu-Erlernen von körpergerechten Bewegungs- und Haltungsmustern, die bereits evolutionär im Körpergedächtnis angelegt sind.

 

Dazu müssen einschränkende Haltungs- und Bewegungsmuster verlernt und losgelassen werden, die durch einen dauerhaft falschen Gebrauch des Körpers angeeignet worden sind. Ziel ist ist es, wieder Wahlmöglichkeiten zu gewinnen und den Muskeltonus dem jeweiligen Moment adäquat anpassen zu können.

 

Somatisches Lernen ist keine Therapie, wirkt aber für viele Menschen therapeutisch

 

Hier eine praktische Erfahrung.

 

 

Somatisches Lernen: Der Berg geht zum Propheten

 

In welchem Maße das Bild, das man von sich selbst hat, verant­wortlich ist für anscheinend objektive Fakten, kann man in dem Bewegungsprinzip erkennen, bei dem die Achse in den unbeweg­lichen Außenbereich verlagert wird – oder mit anderen Worten: man macht dasselbe, nur eben von der anderen Seite aus.

 

So ist beispielsweise eine Schulter, die bei jeder Armbewegung schmerzt, kein Problemfall mehr, wenn du den Körper in Bezie­hung zum Arm bewegst. In dem Gelenk, das den Rumpf mit der Schulter verbindet, findet die gleiche Interaktion statt, aber die Verteilung der Arbeit ist anders. Wenn du den Körper in unge­wohnter Weise zum Arm hin bewegst, bemüht sich die zentrale Achse mit ihrer ganzen Masse, weiter nach außen in die leichtere Peripherie zu kommen. Der Vorteil in diesem anderen Vorgang liegt darin, daß das Gehirn noch nicht gelernt hat, hier ein Abwehr­muster durch Unfähigkeit zu organisieren.

 

Du erfährst die gleiche wechselseitige Interaktion zwischen Arm und Körper, aber dies­mal ohne die alten Vorurteile. Die Bewegung wird folglich in deinem Gehirn als sicher registriert. Wenn du dir darüber hinaus öfter die Gelegenheit gibst, dich in einer Weise zu bewegen, die sich besser für dich auszahlt und auf Bewegung reagierst, als ob du keine Probleme damit hättest, dann wird auch der Stachel des Problems aus Routinebewegungen entfernt werden.

 

Die Heilung eines verspannten Nackens kann mit diesem Ansatz beispielsweise dadurch erfolgen, daß man in einer knieenden Po­sition auf dem Kopf rollt. Der Nacken, der ständig gezwungen ist, die Haltung des Kopfes im Raum zu bestimmen, bleibt nun ganz passiv, wenn du dich hinkniest und den Kopf auf dem Boden ablegst. Nun kommt der Körper zum Kopf und nicht umgekehrt.

 

Der Druck auf die Wirbel kommt ebenfalls aus der entgegengesetz­ten Richtung. Bewege dich sanft in Halbkreisen zwischen 3 und 9 Uhr (einer gedachten Uhr) hin und her, du kannst dabei über 6 Uhr oder über 12 Uhr gehen, und du wirst anschließend feststellen, daß dein Kopf mit einer gleichmäßigeren Kontinuität dahinschwebt und besser auf der Wirbelsäule sitzt.

 

Wer die Kontinuität wiederherstellt, heilt auch seinen Nacken.

 

Dr. Ruth Mischnick, Feldenkrais Bonn, embodiment, intelligentes Gehirn, www.i-rm.org

 

Somatisches Lernen – Unterstützende Bewegungen

 

Von außergewöhnlich großem Wert ist eine Lern­taktik, welche Hilfsbewegung genannt wird. Wenn dir eine Bewegung Schwierigkeiten bereitet, hast du die Möglichkeit durch verschiedene Kompromisse, wie z. B. teilweise Bewegung, alle Arten von unterstützenden Unterlagen, Rhyth­musveränderung, Aktivierung aus einer anderen Richtung, Unter­stützung von einem anderen Körperteil.

 

Du bist aufgefordert, alles zu unternehmen, was deine Bewegung aus der Frustration befreit und auf eine Stufe hebt, auf der sie im Geiste als prinzipiell erreich­bar registriert werden kann. Du wirst sehen, daß du anschlie­ßend die Bewegung ohne Probleme, sogar ohne diese Hilfsmittel ausführen kannst.

 

Für manche Menschen ist es nicht einfach, sich vom Stuhl aus einer sitzenden Position geradewegs in eine stehende Position zu erheben. Aus einem grundlegenden Bewegungsprinzip entneh­men wir die Idee der Rotation, bei der das hintere Bein die Kraft zur Vorwärtsbewegung im gesamten Körper in einer diagonalen Linie erzeugt, die bis zum gegenüberliegenden Arm reicht. In anderen Worten: wenn sich ein Bein nach vorne bewegt, zieht sich die gegenüberliegende Schulter nach hinten zurück.

 

Diesem Prin­zip folgend setzt du dich so auf den Stuhl, daß ein Bein ein wenig vor dem anderen steht. Wenn du aus dieser Position mit einer leicht nach oben drückenden Spirale vom Stuhl aufstehst, hast du wahrscheinlich das Gefühl, daß dein Rücken sich nun leichter an der Aufgabe des Aufstehens beteiligen kann.

 

Eine drehende Bewe­gung erlaubt von sich aus mehr Abstufung und Sensibilität, als eine eindimensionale Frontalbewegung. Du machst die spiralför­mige Bewegung nur zur entspannenden Vorbereitung für den ent­scheidenden Moment, in dem dein Gewicht vom Stuhl abhebt.

 

An­statt das Gewicht beider Hüften gleichzeitig hochzuheben, kannst du sie bei der Spirale schrittweise, d.h. nacheinander anheben.

 

Sobald du dich sicher vom Stuhlsitz entfernt hast, brauchst du die Drehung nicht mehr und du kannst dich wieder gerade nach vorne ausrichten. All diese Abweichungen und Gegen-Abweichun­gen sind minimal – eine Art sanfter kleiner Wellen in deinem Innern, die ein außenstehender Beobachter kaum wahrnehmen kann.

 

Nachdem du diesen Prozeß mehrmals wiederholt hast, begin­nend mit einer rechten Drehung, dann mit einer linken, wirst du mit Überraschung feststellen, daß das direkte Aufstehen nach vor­ne mit der gleichen Leichtigkeit vonstatten geht, wie zuvor das mit der Drehung.

 

Anscheinend genügt es, das intelligente Gehirn an eine effiziente innere Organisation zu erinnern, die ihm jederzeit zur Verfügung steht, so daß es sich diese Organisation sofort zu eigen machen wird und ermutigt wird, sich freier zu bewegen.

 

Auf die gleiche Weise kännst du am Anfang den Bewegungsab­lauf des Aufstehens und Hinsetzens unterstützen, indem du den Blick im Moment der Veränderung von einer Position in die andere auf den Boden richtest. Das Senken des Blickes bewirkt, daß sich der Kopf nach unten neigt; somit wird der gesamte Rücken beein­flußt, es macht ihn bereit für eine stärkere Rundung, die unerläß­lich ist beim aerodynamischen Aufstehen.

 

Nach mehrmaligem Aufstehen mit geneigtem Kopf kannst du die Bewegung auch mit nach vorne gerichtetem Blick ausführen und dabei den Horizont in Kontrolle behalten – dein Rücken wird dann ganz von selbst in gewünschter Weise auf die Welle der Bewegung reagieren.

 

Auf diese Art kann ein Nacken, der Probleme hat beim seitlichen Drehen, den Kopf ebenfalls leichter dahin bringen, wenn du zuerst Schulter oder Arm mit der Wange verbindest und das Ganze als eine Einheit hin und her bewegen, und zwar in ganz kleinen und sanften Bewegungen.

 

Der irritierte Nackenmuskel wird dann über­haupt nicht gebraucht. Das Nervensystem wird in diesem Zustand der Neutralisierung davon überzeugt, daß sich der Kopf im Raum frei hin und her bewegen kann, damit wird die Bewegung als sicher registriert. Auf diesem Weg baut sich die Vorstellung von Erfolg in deinem Bild von sich selbst auf. Nach einigen dieser miteinander verbundenen Drehungen wirst du zu deiner Überraschung feststellen, daß der Nacken reagiert, auch wenn er vom Arm getrennt ist, und daß er sich mit Leichtigkeit weiter drehen läßt als zuvor.

 

Seinen eigenen Körper zu kennen bedeutet, auch den Weg zum Entwirren seiner Verstrickungen zu kennen.

 

Hier ist eine weitere praktische somatische Erfahrung, die du gleich ausprobieren kannst! Klicke hier.

 

Schreibe mir gerne deine Erfahrungen in den Kommentar!

Last Updated on April 21, 2021 by Dr. Ruth Mischnick