Neuroplastizität und Bewegung. Mit der Einführung bildgebender Verfahren hat sich unser Verständnis der Hirnfunktionen erheblich verbessert.
Insbesondere konnte nachgewiesen werden, dass es Zusammenhänge zwischen körperlicher Bewegung und Hirnaktivität gibt. Ich möchte einige Ergebnisse hier anmerken.
Ursache für die neue Sicht ist die in den 1980er Jahren begonnene Einführung der so genannten bildgebenden Verfahren in der Medizin. Darunter ist die Positronen-Emissionstomographie (PET) zu verstehen sowie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT).
Hierdurch wurde die Forschung erstmals in den Stand versetzt, auch kleinste Gehirnabschnitte von Größenordnungen unterhalb eines Milliliters auf Durchblutung und Stoffwechsel untersuchen zu können.
Damit verbunden konnten nunmehr sogar Gedanken auf Leinwände projiziert werden.
Ein neues Weltbild des Gehirns
Der breite Gebrauch dieser neuen Apparate schuf völlig neue Einblicke in Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns.
So hatte bis zu diesem Zeitpunkt in den meisten Neurologiebüchern die Meinung vorgeherrscht, körperliche Bewegungen hätten praktisch keinen Einfluss auf Durchblutung und Stoffwechsel im Gehirn.
Die Gehirnstruktur erschien als ein fest gefügtes Instrumentarium ohne Variationsmöglichkeiten. All dies erfuhr eine Korrektur durch die Anwendung der neuen Untersuchungsverfahren.
Darüber hinaus konnte vor wenigen Jahren eine Neubildung von Kapillaren im Gehirn beobachtet werden als Folge körperlicher Bewegung, was man bisher nur dem Skelett- und Herzmuskel zuschrieb.
Gewissermaßen den Höhepunkt dieser neuen Erkenntnisse stellte die Entdeckung von Eriksson u.a. (1998) dar, die erstmals Neubildungen von Neuronen im Gehirn beschrieb. Auch dieser Prozess wird speziell durch körperliche Aktivität gefördert.
So hat sich innerhalb von 20 Jahren das gesamte Weltbild zur Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns geändert.
Was aber bedeuten diese neuen Erkenntnisse aus der Wissenschaft? Was hat Bewegung mit Lernen zu tun? Fördert körperliche Betätigung Gedächtnisprozesse?
Eine neue Disziplin, die Bewegungsneurowissenschaft, liefert Antworten auf diese und weitere Fragen.
Aktivitätsabhängige und bewegungsbedingte Neuroplastizität
Das menschliche Gehirn verfügt über die Fähigkeit, sich beständig den Erfordernissen seines Gebrauchs anzupassen. Es ist ein flexibles und plastisches Organ des menschlichen Körpers, das durch seinen Gebrauch geformt wird wie ein Muskel durch seinen Krafteinsatz.
Alle Lebenserfahrungen prägen das Gehirn und machen es somit einzigartig. Neurowissenschaftler sprechen dabei von Neuroplastizität.
Körperliche Aktivität stellt eine der wichtigsten Stimulationen bereits des Gehirns eines Fötus dar, da durch Bewegungen des Kindes und der Mutter die Bildung, Entwicklung und Vernetzung von Nervenzellen angeregt werden.
In der frühen Kindheit erfolgt die Vernetzung und Bildung von Nervenzellen besonders schnell, aber die Fähigkeit des Gehirns, sich den Anforderungen anzupassen, bleibt bis ins hohe Alter bestehen.
Die belastungsbedingte Ne-roplastizität bildet die Grundlage dafür, dass körperliche Aktivität die geistige und psychische Verfassung des Menschen zeitlebens fördert und auf zellularer Ebene Einfluss auf das Lernen nimmt.
Bewegung fördert Gehirnprozesse, indem sie auf die Struktur und Funktionsweise des Gehirns einwirkt. Durch den Sport trainiert man also nicht nur den Körper, sondern auch die Anpassungsfähigkeit und somit die Plastizität des Geistes.
Bewegte Neurogenese
Eine besondere Form der Neuroplastizität stellt die Neurogenese dar, die Neubildung von Nervenzellen. Dies wurde 1998 erstmals an erwachsenen Menschen im Hippokampus nachgewiesen.
Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte die Meinung vor, im menschlichen Gehirn komme es mit der Geburt nur noch zu einem Zellverlust und ein Nachwachsen von Nervenzellen im erwachsenen Gehirn sei nicht möglich.
Der Hippokampus ist eine Hirnstruktur, die notwendig ist für deklarative (verbalisiertes Faktenwissen), episodische (Erinnerungen an persönliche Erfahrungen) und räumliche Lern- und Gedächtnisprozesse.
Ohne Hippokampus könnten wir keine neuen Fakten und Erfahrungen speichern. Ein und dieselbe Tageszeitung wäre jeden Tag aufs Neue interessant, und bekannte Menschen müssten sich uns jeden Tag neu vorstellen, da wir jegliche Information sogleich wieder vergessen würden.
Allerdings war mit der Entdeckung der Neurogenese im Hippokampus noch nicht eindeutig geklärt, ob die neugebildeten Nervenzellen nur strukturelle Auswirkungen oder auch eine funktionelle Bedeutung haben.
Anfang des Jahrtausens wurde der Erweis erbracht, dass neugebildete Nervenzellen in hippo-kampale Neuronenverbände integriert und mit den bestehenden neuronalen Netzwerken verschaltet werden.
Auf diese Weise verbessert die Neurogenese im Hippokampus Lernprozesse und spielt eine sehr große Rolle beim Wiedererwerb von Fähigkeiten, die durch Neuronenuntergang verlorenen gehen.
Die hippokampale Neurogenese lässt sich durch Bewegung fördern, wobei sich die Anzahl der neugebildeten Nervenzellen durch körperliche Betätigung in Form von Ausdauertraining verdoppeln lässt.
Im Laufe des Älter-werdens nimmt die Anzahl der durch körperliche Aktivität neugebildeten Nervenzellen im Hippokampus zwar ab, sie ist aber zeitlebens nachweisbar.
Diese Ergebnisse verdeutlichen den großen Einfluss körperlicher Aktivität auf kognitive Prozesse und zeigen, dass auch ältere und alte Menschen ihr Gehirn strukturell verjüngen und dessen Leistungsfähigkeit durch Sport und Bewegung steigern können.
Neurotransmitter und körperliche Aktivität
Eine weitere positive Wirkung von körperlicher Betätigung auf Gedächtnisleistungen, Lernvermögen und emotionale Prozesse stellt die Erhöhung der Konzentration verschiedener Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn dar.
Milliarden von Nervenzellen des Gehirns kommunizieren untereinander mittels verschiedener Neurotransmitter, die Signale von einer Nervenzelle zur nächsten weitergeben und auf diese Weise sämtliche Gedanken und Handlungen steuern.
Die Verbindungsstelle zweier Nervenzellen nennt man Synapse, wobei sich die Zellen nicht wirklich berühren. Ein elektrisches Signal wird an der Synapse von einem Neurotransmitter in chemischer Form über den so genannten synaptischen Spalt der nachgeschalteten Nervenzelle übermittelt.
In zahlreichen tierexperimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass Synthese und Metabolismus der Neu-rotransmitter Serotonin, Dopamin und Noradrenalin durch körperliche Aktivität gesteigert und die damit verbundenen Gehirnprozesse positiv beeinflusst werden können. Auch dies lässt sich auf den Menschen übertragen.
Die beschriebenen positiven Auswirkungen körperlicher Aktivität auf unterschiedliche neurobiologische Prozesse im Gehirn machen deutlich, wie wichtig regelmäßige Bewegung für emotionale Prozesse, Gedächtnis- und Lernleistungen ist.
Sport und Bewegung fördern die Kognition
Kognitive Funktionen steuern unser Denken und Verhalten. Exekutive Funktionen ermöglichen es uns, Entscheidungen zu treffen, planvoll und zielgerichtet, aber auch flexibel vorzugehen, das eigene Handeln zu reflektieren und es womöglich zu korrigieren.
Diese Funktionen werden in der Neuroanatomie als Fron-talhirnfunktionen beschrieben, da ihre neuronalen Korrelate im präfrontalen Kortex zu finden sind. Sie ermöglichen es, das eigene Verhalten und Gedanken zu steuern und zu regulieren.
Damit ein Mensch sich selbst erfolgreich steuern kann, ist ein Zusammenspiel verschiedener Teilaspekte exekutiver Funktionen erforderlich: automatische Reaktionen hemmen, Informationen im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten und geistig flexibel sein.
Die Hemmung von Handlungen und Aufmerksamkeit beschreibt Fähigkeiten wie: etwas trotz bestehender Bedürfnisse nicht zu tun, einem Handlungsimpuls zu widerstehen und von Störreizen unbeeinflusst weiterzuarbeiten.
Das Arbeitsgedächtnis dient der kurzzeitigen Speicherung aufgabenrelevanter Informationen und deren Bearbeitung. Dem Arbeitsgedächtnis kommt damit die Aufgabe zu, sich daran zu erinnern, welche naheliegende, unangemessene Reaktione gehemmt bzw. welches übergeordnete Ziel verfolgt werden soll.
Die kognitive Flexibilität ermöglicht es dem Menschen, sein Verhalten bei sich ändernden Anforderungen oder Prioritäten umzustellen.
Sie übernimmt als ein Aspekt des geistes damit die Aufgabe, nach erfolgter Hemmung einer Handlung und in Übereinstimmung mit den im Arbeitsgedächtnis präsenten Inhalten eine Verhaltensänderung zu vollziehen.
Das Wirken des Geistes und eine gute Selbststeuerung bilden die Grundlage für die menschliche Fähigkeit, zu planen, sich Ziele zu setzen und Entscheidungen zu treffen.
Sie haben große Bedeutung für die selektive Aufmerksamkeit, die Fehlerverarbeitung und die Problemlösefähigkeit. Damit stellen gut ausgebildete exekutive Funktionen die Basis erfolgreichen Lernens dar.
Eine gute Selbstregulation bildet gleichzeitig die Voraussetzung für Impulskontrolle, Frustrationstoleranz und Emotionsre-gulation und ist damit entscheidend für das menschliche Sozialverhalten.
Seit Ende der 1990er Jahre werden exekutive Funktionen im Zusammenhang mit muskulärer Beanspruchung und allgemeiner körperlicher Leistungsfähigkeit erforscht.
In mehreren neuen Studien konnte nachgewiesen werden, dass akute Ausdauerbelastungen exekutive Funktionen von jungen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen positiv beeinflussen.
Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass sich die selektive, exekutive Aufmerksamkeit Jugendlicher bereits durch eine zehnminütige bilaterale koordinative Übung fördern lässt.
Studien zur körperlichen Fitness weisen in die gleiche Richtung. Eine gesteigerte körperliche Fitness fördert geistige Fähigkeiten vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter.
In einer Studie wurde beispielsweise nachgewiesen, dass körperlich fitte Jugendliche im Vergleich zu weniger fitten Jugendlichen höhere Aufmerksamkeit sprozesse und eine effektivere kognitive Kontrolle aufweisen.
Diese Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die körperliche Fitness die Leistung kognitiver Fähigkeiten verbessert, indem die geistige Anstrengung bei Prozessen der Handlungsüberwachung reduziert wird.
Daraus lässt sich unter anderem folgern, dass Gehirne von körperlich leistungsfähigeren Menschen effizienter arbeiten als die Gehirne von Menschen mit geringerer Fitness.
Das Gehirn gilt als das anpassungsfähigste Organ des menschlichen Körpers. Sport und Bewegung wirken aufgrund der aktivitätsbedingten Neuroplastizität auf die Gehirnstruktur und seine Funktionen ein. Dieser Prozess setzt bereits im Fötalstadium ein und hält über die gesamte Lebensspanne an.
Über körperliche Aktivität können gleichermaßen Entwicklungsprozesse des kindlichen Gehirns und damit die Lernleistung und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gefördert sowie die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter länger aufrecht erhalten werden.
Es ist folglich wichtig, bereits in Kindergarten und Schule die körperliche Leistungsfähigkeit zu trainieren und dies bis ins hohe Alter mit regelmäßiger körperlicher Betätigung beizubehalten.
Neuroplastizität und Bewegung – Feldenkrais und Neuroplastizität
Die Wirkungsweise der Feldenkrais-Methode beruht darauf, dass wir anhand von Bewegung mit dem Gehirn interagieren und es dazu anregen, neue Muster zu bilden.
Wir nutzen in der Feldenkrais-Methode Bewegung, aber im Gegensatz zu vielen anderen Methoden, benutzen wir sie nicht mit der Absicht, Muskeln zu dehnen oder zu trainieren, sondern Veränderungen im Gehirn herbei zu führen.
Es gibt einen natürlichen Drang des Gehirns sich zu entwickeln und immer präziser, wirksamer und angemessener mit der Umwelt zu interagieren.
Dieser natürliche Prozess wird heute unter dem Begriff Neuroplastizität immer bekannter: Die Fähigkeit des Gehirns, jederzeit neue Verbindungen zu knüpfen – seine eigentliche Aufgabe ein Leben lang.
Damit das Gehirn seine Arbeit gut verrichten kann, müssen wir es mit den entsprechenden Informationen versorgen. Wenn wir die Bewegung mit Achtsamkeit ausführen, beliefern wir das Gehirn mit jenen sensorischen Informationen, die es benötigt, um aufzuwachen, zu wachsen und neue Bewegungs-, Gefühls-, Denkmuster zu bilden.
Dadurch können wir allmählich gewohnheitsbedingte Einschränkungen und Schmerzen überwinden sowie das Spektrum der individuellen Handlungsfähigkeit erweitern und verfeinern. Darüber hinaus entwickeln wir die nötigen Mittel, um unsere natürliche Beweglichkeit bis ins hohe Alter zu erhalten.
Moshé Feldenkrais nannte seine Gruppenarbeit »Bewusstheit durch Bewegung«. Bewusstheit ist unsere Fähigkeit, zu wissen, dass wir wissen, unsere Fähigkeit, uns selbst zu beobachten. Bewusstheit ist ein essentieller Grundbaustein für Selbsterkenntnis und unverzichtbar für wirkliches, tiefgreifendes Lernen.
Wenn wir ohne Bewusstheit handeln, handeln wir automatisch und wissen manchmal nicht einmal, dass wir etwas tun. Aber: Nur wenn wir wissen, was wir tun, können wir tun, was wir wollen. Es ist wie eine Landkarte – unsere eigene innere Lebenslandkarte.
Was meinst du? Schreibe mir gerne einen Kommentar unter diesen Beitrag.
Last Updated on April 7, 2021 by Dr. Ruth Mischnick
Erfreulich, dass sich so viele Menschen um den Erhalt ihrer geistigen und körperlicher Gesundheit kümmern; und dieser Folgeaufsatz möge ebenfalls von vielen angeklickt, gelesen und verinnerlicht, und im Alltag umgesetzt werden (und ein gutes Ranking in den Suchmaschinen erreichen).
Vielen Dank!
Viele Menschen möchten in ihrer Freizeit gerne Sport machen, ohne viel dabei zu ‚denken‘. Es ist so bequem, wenn jemand vorne steht und zeigt und sagt, wie es aussehen soll.Sich anstrengen und verausgaben tut ja wirklich auch gut Dabei erlebe ich sehr starkes Konkurrieren und Vergleichen, wer es am besten macht. Wie es sich anfühlt ist eine andere Geschichte. Und kann ich in der Bewegung etwas für mich entdecken, ohne es vorzeigen zu wollen, ohne bewertet und gelobt zu werden?
Wenn Bewegung va Feldenkrais auch als Kognitionstraining anerkannt wird,bekommt es vielleicht noch einen anderen Stellenwert. Danke für den Beitrag 🙏
Das Interesse finde ich auch außergewöhnlich. Es zeigt, dass Menschen eben doch auf der Fährte dessen sind, was ihnen gut tut.
Das ist ein sehr informativer Artikel. Es wäre wichtig, dass dieses Wissen und die Zusammenhänge in die Aus- und Weiterbildung von Pädagogen integriert wird. Damit sind dann auch die Eltern in den Lernprozess mit einbezogen. Bewegung ist leider durch die aktuellen Einschränkungen stark heruntergefahren, sowohl in der Schule, im Vereinssport, in der Fitnessbranche bis hin zu den Alten- und Pflegeheimen. Fettleibigkeit, Demenz, Gehen mit Rollator … nehmen trastisch zu.
Danke, dass Sie die Zusammenhänge verdeutlicht und mich zum Ausdauersport motiviert haben.
Bin ganz deiner Meinung.
Wäre klasse, wenn dies noch mehr in Kitas, Schulen, im Fitnessbeteich, Präventionskursen, Behinderteneinrichtungen, Pflegeheimen usw unter Einbeziehen des Systems (Eltern, Angehörige) umgesetzt würde.
Der Mensch wurde einfach wunderbar erschaffen, so wie auch die Natur. Es wird schon lange viel geforscht und immer wieder werden neue Geheimnisse gelüftet. Welch ein großartiger Schöpfer muss das sein! Was mich fasziniert, dass wir nicht einem Zerfall ausgeliefert sind, sondern aktiv für unsere geistliche, seelische und körperliche Gesundheit mitwirken können!
Die genialen Dinge sind letztlich immer „simpel“.
Ich denke, dass bei vielen Erkrankungen die mit Bewegungseinschränkungen zu tun haben, Denkmuster vorherrschen die sich über Jahre eingeschlichen haben. Diese können durch gezieltes Training geändert werden. Bewusstes Spüren des Körpers mit Bewegungen, Atmung und Nachspüren führt dazu, dass das Gehirn neue Bewegungsmuster lernt. Durch eine gesteigertes Bewegungsfreheit, paßt sich das vorher durch Trauma entstandene Denkmuster an. Eine Leichtigkeit entsteht im Körper und Geist, ähnlich einer Aufwärtsspirale.