Die meisten Geheimnisse sind scheue Geschöpfe. Sie vergraben sich tief in den hintersten Ecken des Gedächtnisses und ruhen dort still und zufrieden. Manche aber rumoren rastlos im Untergrund, und doch halten wir sie verborgen. Wir fürchten, dass sie Befremden hervorrufen, dass wir ihretwegen verachtet oder ausgelacht werden.

Entsprechend mühsam ist es, die Schattenkreaturen zu erforschen. Der Erste, dem das im großen Stil gelang, ist Michael Slepian, heute Nachwuchsprofessor an der Columbia University. Der New Yorker Psychologe, ein jungenhafter Typ mit fröhlichem Gesicht, ist in den USA ein bekannter Experte für die dunklen Ecken der Seele; viele namhafte Zeitungen haben schon über seine Studien berichtet.

Tausende von Geheimnissen hat er aufgespürt, sortiert und kategorisiert. 2017 entwickelte er daraus ein Inventar, den »Common Secrets Questionnaire«. Es listet 38 Arten von Geheimnissen auf, darunter manch schillernde Spezies, etwa heimlich verliebt zu sein oder ein exzentrisches Hobby zu pflegen, aber auch Zwielichtiges und tragische Ereignisse, wie Lügen und Betrügen, Schwangerschaftsabbruch und berufliches Versagen. Viele gehören in die Sparte der moralischen Verfehlungen oder des Intimlebens; bei anderen handelt es sich um persönliche Peinlichkeiten wie das Hadern mit dem eigenen Körper, mit dem Job oder Privatleben. Und dann ist da noch die große Gruppe psychischer Probleme, darunter Sucht und Depressionen, Traumata und Suizidversuche. Unter freiwilligen Testpersonen bekundeten 97 Prozent, zumindest eines der 38 »Common Secrets« zu hüten. Im Mittel hatten sie sogar von fünf Geheimnissen noch nie jemandem erzählt.

Mit dieser Liste fischen der Psychologe und seine Kollegen nun immer wieder in den privatesten Gefilden ihrer Versuchspersonen. Sie wollen herausfinden, wie Geheimnisse die Gefühle und Gedanken beeinflussen. Dass sie eine Last darstellen können, hatten erste Experimente schon 2012 nahegelegt. Unter anderem sollten Versuchspersonen an ein persönliches Geheimnis denken und es im weiteren Verlauf des Versuchs verbergen. Sie fühlten sich daraufhin erschöpfter als eine Kontrollgruppe, die zwar ebenfalls persönliche, aber nicht geheime Informationen für sich behalten sollten.

 

Nicht das Verheimlichen, sondern mit dem Geheimnis zu leben lastet auf der Seele. Es vermittelt das Gefühl, nicht authentisch zu sein

Wie bedeutend ein Geheimnis von außen besehen erscheint, ist für das subjektive Leid offenbar egal. Vielmehr komme es darauf an, so Slepian, wie oft die Gedanken darum kreisen. Und das geschehe auch ohne erkennbaren Anlass, also unabhängig von Gesprächen, in denen es das Geheimnis zu wahren gilt. Ist die Gefahr gebannt, verschwinden die Gedanken nicht, erklärt er, »sie bleiben bei uns«. Sie führen ein Eigenleben.

Die wichtigste Erkenntnis des Psychologen lautet deshalb: Nicht das Verheimlichen, sondern mit dem Geheimnis zu leben und ständig daran zu denken, lastet auf der Seele. Es vermittelt das Gefühl, nicht authentisch zu sein, macht müde und einsam.

Welche Geheimnisse am mächtigsten in uns rumoren, untersuchte Slepian 2019 in einer Studienreihe gemeinsam mit Kollegen. Rund 1000 Menschen fragten sie mit dem »Common Secrets Questionnaire«, ob sie derzeit etwas geheim hielten, wie oft sie diese Sache in den vergangenen 30 Tagen verborgen hatten und wie oft sie ihnen darüber hinaus in den Sinn gekommen war. Weitere Versuchspersonen wurden gebeten, sich ein Geheimnis ins Gedächtnis zu rufen, das sie vor ihrem Partner versteckten und weswegen sie sich schämten oder schuldig fühlten. Am nächsten Morgen sollten auch sie berichten, wie oft sie daran gedacht hatten.

Beide Studien zeigen: Je größer die Scham, desto öfter drängen sich Geheimnisse ohne konkreten Anlass in die Gedanken. Und die qualvollsten drehen sich stets um eines von drei großen Themen: schlechte Taten, Statusmerkmale oder psychische Erkrankungen und Traumata.

 

Gewalt, Autoaggression, Untreue

Einem Menschen Gewalt angetan zu haben, ist laut Slepians jüngsten Befunden das beschämendste aller Geheimnisse. Und ein besonders folgenreiches, denn Scham ist selbst nicht nur Folge, sondern Ursache von Aggressionen. Gewalt auszuüben, gibt ein Gefühl von Macht und Stärke, vertreibt Scham, Minderwertigkeitsgefühle und den damit verbundenen »sozialen Schmerz«, der im Gehirn ähnliche Muster hinterlässt wie körperliche Schmerzen. Ein wirksames Mittel gegen die Scham, das aber langfristig noch mehr Scham nach sich zieht.

Das Vermeiden und Vertreiben unangenehmer Gefühle ist ein mächtiges Motiv hinter vielen Verhaltensweisen. Autoaggressionen wie Suizidversuche oder andere Arten der Selbstverletzung zählen ebenfalls dazu; auch sie helfen kurzfristig, das unerträgliche Gefühl der Scham loszuwerden. Das therapeutische Ziel lautet deshalb hier wie bei anderen Aggressionsformen, die Scham in »schamfreie« Schuldgefühle umzuwandeln.

Schuldgefühle beziehen sich nur auf ein konkretes Verhalten und den resultierenden Schaden. Sie entspringen verinnerlichten sozialen Normen und warnen davor, dass andere uns ablehnen, verlassen oder verstoßen könnten. Meist halten sie von weiteren schlechten Taten ab oder zur Wiedergutmachung an. Chronische Scham wirkt destruktiver, denn in ihr steckt eine Abwertung der gesamten eigenen Person.

Was das Ausmaß an Scham angeht, folgt Untreue an zweiter Stelle hinter Körperverletzungen. Dennoch schwirrt ein Seitensprung den Abtrünnigen weniger im Kopf herum, als man vielleicht erwarten würde. Das gilt auch für emotionale Untreue, also sich in eine andere Person zu verlieben. Was in einer Partnerschaft als schlimmer empfunden wird, hängt unter anderem vom Geschlecht ab, wie Studien nahelegen. Männer reagieren demnach sensibler auf sexuelle Untreue und Frauen auf emotionale Untreue.

 

Körper, Konto, Karriere

Um kein Geheimnis kreisen die Gedanken so unablässig wie um die Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Besonders Übergewichtige neigen auch verstärkt zu Schamgefühlen – und das selbst, wenn Figur und Gewicht gerade gar keine Rolle spielen, weil sie für andere nicht sichtbar sind. Das zeigte ein Computerexperiment, in dem die Versuchspersonen am Bildschirm Ball spielten. Bekamen Übergewichtige von ihren vermeintlichen Online-Mitspielern nur selten den Ball, reagierten sie mit mehr Scham als Normalgewichtige, die gleichermaßen von ihren Mitspielern ignoriert wurden.

Zwei weitere Statusmerkmale beschäftigen uns zwar fast ebenso sehr – Geld und Karriere. Doch auch wenn einige Menschen nicht gern Auskunft über sie geben, sind Kontostand, Einkommen und Karriereambitionen weit weniger schambehaftet als viele andere Geheimnisse.

Die Sorge ums Aussehen kann sich sogar zu einer körperdysmorphen Störung auswachsen, also der fortwährenden Beschäftigung mit einem vermeintlichen oder geringfügigen körperlichen Makel. Typisches Objekt einer solchen Obsession ist beispielsweise eine krumme Nase, unreine Haut oder eben die Figur. So wird die Unzufriedenheit mit dem Körper zu einer anderen Art von Geheimnis, das die Gedanken beherrscht und oft sehr schambehaftet ist: einer psychischen Erkrankung.

 

Trauma, Sucht und andere psychische Leiden

Noch immer gelten Süchte und ganz allgemein psychische Störungen als persönliche Schwäche. Viele Betroffene übernehmen diese Sichtweise, fühlen sich deshalb minderwertig, schämen sich und verheimlichen ihre Probleme. Scham kann wiederum in einen Teufelskreis münden, zum Beispiel als Folge und Ursache von Sucht und Depressionen. Ebenso bei Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung: Sie neigen laut einer Studie der Universität Freiburg zu besonders ausgeprägter Scham. Das quälende Gefühl löst typische Verhaltensweisen aus, wie Wutanfälle, Selbstverletzungen und Drogenkonsum, die zwar kurzfristig die Scham mindern, sie langfristig aber aufrechterhalten.

Hinter vielen dieser psychischen Erkrankungen stecken frühe Traumata. Obwohl es widersinnig erscheint, leiden ausgerechnet Traumaopfer oft unter Scham- und Schuldgefühlen. Der australische Psychiater Paul Valent schreibt, dass sich selbst die Opfer des Holocausts schuldig fühlten: Sie meinten, sie hätten ihre Schicksalsgenossen retten oder an deren Stelle sterben sollen.

Je mehr Gewalt Menschen erlebt haben, desto stärker leiden sie unter Schuld- und Schamgefühlen sowie Ängsten und Depressionen. Besonders schambesetzt sind Gewalterfahrungen in der Kindheit, Gewalt durch nahe Angehörige sowie sexuelle Gewalt. Das zeigte sich unter anderem in Telefoninterviews in Norwegen, in denen mehr als 4500 Erwachsene nach etwaigen traumatischen Erlebnissen befragt wurden. Bei Naturkatastrophen ist es nicht anders. Nachdem in Italien 2009 die Erde bebte und mehr als 300 Menschen starben, berichtete unter knapp 900 befragten Überlebenden rund jeder zweite über Scham- oder Schuldgefühle.

Traumafolgen wie die Posttraumatische Belastungsstörung hängen vor allem mit Schamgefühlen eng zusammen. Schuldgefühle tragen zwar zur Schwere der Traumatisierung bei, doch nur dann, wenn sie auch mit Scham verbunden sind. Eine gute Traumatherapie sollte deshalb unbedingt Schamgefühle ansprechen.

 

Der Selbstoffenbarung stehen Schamgefühle im Weg. Wie wird man sie los?

Es gibt viele gute Gründe, ein Geheimnis zu teilen: um das Versteckspiel zu beenden, sich von einer Last zu befreien, sich zugehörig, verstanden und unterstützt zu fühlen. »Eine geteilte Wirklichkeit sichert das Überleben in der komplexen sozialen Welt«, erklärt der Psychologe Slepian. Wer sich abkapselt, verzichtet auf neue Perspektiven, guten Rat und das Gefühl, den eigenen Problemen gewachsen zu sein.

Sich der falschen Person zu offenbaren, birgt allerdings die eingangs genannten Risiken, vom peinlich berührten Schweigen des Gegenübers bis hin zur systematischen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Zum Zuhörer auserkoren wird deshalb vor allem, wer mitfühlend und hilfsbereit auf Sorgen und Probleme seiner Mitmenschen reagiert. Höfliches oder auch überschwängliches Verhalten flößen hingegen wenig Vertrauen ein. Aber auch wenn man einer Person vertraut und das Risiko eingehen möchte, stehen der Selbstoffenbarung weiterhin unangenehme Schamgefühle im Weg. Wie wird man sie los?

Ein möglicher Weg ist, sich selbst ein guter Freund zu sein. Dabei helfen Interventionen wie die Acceptance and Commitment Therapy (ACT). Sie lehren, Leid und Unzulänglichkeiten als zum Menschsein zugehörig zu betrachten, Gedanken und Gefühle so zu akzeptieren, wie sie sind, sie nicht zu bewerten und sich selbst mit Wohlwollen und Mitgefühl zu begegnen. Das mindert Scham- und Minderwertigkeitsgefühle und somit jene negativen Selbstbewertungen, die zahlreiche psychische Leiden in einen Teufelskreis treiben.

Interventionen, die Selbstakzeptanz und Selbstmitleid fördern, haben sich unter anderem bei Sucht und bei Essstörungen als wirksam erwiesen. Die empathische Zuwendung und verlässliche Beziehung im Rahmen einer Psychotherapie kann zusätzlich dazu beitragen, chronische Schamgefühle zu »verlernen«. Von Berufs wegen eignen sich Psychotherapeuten ohnehin als Vertrauensperson, denn sie unterliegen der Schweigepflicht. Davon entbunden sind sie nur dann, wenn jemand eine akute Gefahr für sich oder andere darstellt.

Wer sich dennoch lieber selbst helfen will, kann etwaige Schamgefühle zumindest kurzfristig »wegatmen«. Eine Studie in Asien zeigte, dass zehn Minuten Atemmeditation genügen, um die mit einem Geheimnis verbundene Scham bei Menschen mit Borderline-Symptomen zu lindern. Die 88 Freiwilligen sollten zunächst ein Ereignis notieren, von dem sie noch nie jemandem erzählt hatten: ein persönliches Versagen, eine schlechte Tat oder ein traumatisches Erlebnis, für das sie sich selbst die Schuld gaben. Ein Teil von ihnen, die Kontrollgruppe, sollte dann zehn Minuten lang die Gedanken nach Belieben schweifen lassen. Eine zweite Probandengruppe wurden im gleichen Zeitraum per Tonaufnahme dazu angeleitet, sich und anderen liebevoll zu begegnen, und die dritte sollte sich bewusst auf den eigenen Atem konzentrieren.

Mit der Atemmeditation gelang es am besten, die mit dem Geheimnis verbundenen Schamgefühle zu mindern. Das bewusste Atmen lenkt die Aufmerksamkeit offenbar weg von den unangenehmen Gefühlen und rumorenden Gedanken. So schrumpft das Geheimnis im Bewusstsein – bis es harmlos und unbedeutsam erscheint und ans Licht kommen darf oder in einem ruhigen Versteck seinen Frieden findet.

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Last Updated on August 31, 2019 by Dr. Ruth Mischnick