Der Mythos von der Selbstliebe. Die westliche Kultur ist besessen vom Individualismus. In den letzten Jahren hat das Lexikon des „Selbst“ – Selbstliebe, Selbstfürsorge, selbst gemacht, das Selfie usw. – eine intensive Debatte ausgelöst. Ist „Selbstliebe“ zu einem Marketingbegriff geworden, damit Kosmetikmarken mehr Produkte unter dem Deckmantel der Wellness verkaufen können?

 

Macht uns Selbstfürsorge selbstkritischer?  Zeigt ein „Selfie“ der Welt unser stärkstes Selbst oder präsentiert es eine besser beleuchtete und vielleicht sogar leicht optimierte Version davon, wie wir denken, dass wir gerne aussehen würden? Wenn die Leute sagen „Liebe dich selbst“, dann frage ich mich, welche?

 

Die Idee des Selbst ist zwar nicht neu, aber verschiedene Kulturen ordnen das Selbst auf einem Kontinuum ein: einzigartig oder vielfältig, getrennt oder zusammen, unabhängig oder angepasst. Und unsere Vorstellungen über das Selbst entwickeln sich weiter.

 

Im Westen neigen wir dazu, das Selbst als eine separate Einheit mit klaren Grenzen zu sehen, die eine unabhängige Identität abgrenzt. Diese Vorstellung vom Selbst besteht aus inneren Grübeleien über Selbstvertrauen, Zweifel, Glück, Versagen, Fähigkeiten, Behinderungen und Privilegien oder deren Fehlen.

 

Aber das Selbst ist auch in eine kosmische Verbindung mit den Menschen um uns herum und mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen verstrickt. Wir lernen nicht von selbst, uns zu lieben. Es ist ein klassisches Henne-Ei-Szenario: Um einen anderen zu lieben, müssen wir uns selbst lieben.

 

Selbstliebe und Selbstwertgefühl

 

Um uns selbst zu lieben, müssen wir uns erlauben, von anderen geliebt zu werden. Und wir müssen erkennen, dass ein negatives Selbstwertgefühl mit gesellschaftlichen Botschaften darüber durchsetzt ist, wer liebenswert, lobenswert oder verabscheuungswürdig ist.

 

Es kann wunderbar sein, allein zu sein, unserem Körper eine Massage zu gönnen, uns ein leckeres Essen für eine Person zu kochen, aber das ist keine Selbstliebe, sondern Selbstständigkeit und Selbstgenügsamkeit. Selbstliebe hingegen entspricht eher dem, was man unter Selbstwertgefühl versteht: unsere Fähigkeit, uns als fehlerhaftes Individuum zu sehen und uns trotzdem wertzuschätzen.

 

Selbstliebe ist die Fähigkeit, nicht in eine Pfütze der Verachtung zu fallen, selbst wenn wir Fehler machen. Es bedeutet, neue Dinge auszuprobieren und zu wissen, dass wir scheitern könnten, ohne uns deshalb als Versager zu betrachten. Können wir dieses Verständnis und Selbstmitgefühl in unsere Beziehungen zu anderen mitnehmen?

 

Als ich kürzlich auf dem Weg nach München war war, stellte ich auf dem Bahnhof fest, dass ich meine Brieftasche und meinen Computer zu Hause vergessen hatte. Meine multiplen Ichs begannen sofort in meinem Kopfzu sprechen: Wie konntest du das tun? Du wirst deinen Zug verpassen. Und dann meldete sich eine neue Stimme: Ruth, wie gut, dass dir das in deinen Fünfzigern widerfährt. Das war die Stimme, auf die ich mich einstellte.

 

Wäre dieses Szenario vor zwanzig Jahren passiert, hätte ich mir gnadenlos Vorwürfe gemacht. Ich hätte mir gesagt: „Was zum Teufel ist los mit dir? Du bist so dumm. Geh dich verstecken. Aber diese neue Stimme sagte, dass du einen Fehler gemacht hast. Das kommt vor. Und was jetzt?

 

Ich nahm den Hörer in die Hand und rief eine Freundin an, um sie zu fragen, ob sie mit mir einen Kaffee trinken gehen wollte, weil ich gerade Zeit hatte. Für mich ist das Selbstliebe. Und schau mal, wie viele Menschen daran beteiligt waren.

 

Aus diesem Grund wehre ich mich auch gegen den Begriff „self-made“ – diese Mentalität des „Wenn ich es schaffe, habe ich es selbst geschafft und wenn ich auf der Straße lande, bin ich selbst schuld“.

 

Der Mensch ist gleichzeitig abhängig und selbständig. Wenn ich ein Buch schreibe, beginne ich mit den Danksagungen, denn ohne diese Menschen hätte ich das Buch nicht schreiben können. Ich bin in hohem Maße auf das Fachwissen, die Hilfe, die Anwesenheit und die Liebe anderer angewiesen. Das sind wir alle.

 

Bei der Selbstliebe geht es weniger um die Fähigkeit, der Einsamkeit zu widerstehen oder Unabhängigkeit zu erlangen, sondern vielmehr um das Bewusstsein und die Akzeptanz unserer Unvollkommenheit. Es geht darum, uns von anderen lieben zu lassen, auch wenn wir uns nicht liebenswert fühlen, denn ihre Version von uns ist oft freundlicher als unsere eigene.

 

 

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Richten wir die Linse auf dich

 

 

Wie sieht Selbstliebe für dich aus? Versuche, dir die folgenden Fragen zu stellen:

Kann ich zugeben, dass ich Mist gebaut habe, ohne mir selbst zu sagen, dass ich Mist baue?

Kann ich Bedauern üben, ohne in einen Abgrund zu stürzen?

Kann ich Verantwortung übernehmen, ohne mir die Schuld zu geben?

Kann ich mich für einen Fehler entschuldigen, anstatt zu hoffen, dass alle einfach weitergehen?

Kann ich mir eingestehen, dass ich in meinem eigenen Leben eine bessere Führungskraft hätte sein können?

Kann ich mich von der Scham befreien, nicht früher auf jemanden reagiert zu haben, so dass ich endlich die Hand ausstrecken kann?

Kann ich akzeptieren, dass es mir auch dann gut geht, wenn jemand, der mich verletzt hat – ein Elternteil, ein ehemaliger Partner, ein Freund oder ein Fremder – den Schmerz, den er verursacht hat, nie anerkennt?

Kann ich mich von jemandem auf einen Kaffee, zum Essen oder ins Kino einladen lassen, ohne mich schuldig zu fühlen?

Kann ich die Hilfe eines anderen annehmen, ohne zu dem Schluss zu kommen, dass er etwas von mir will?

Kann ich meinen Standpunkt vertreten, ohne dafür bestätigt zu werden?

 

 

Gesprächsanregungen

 

Ein Kompendium empfehlenswerter Quellen für Inspiration und Information.

 

 

Ich lese gerade:

 

„An Essay Concerning Human Understanding“ von John Locke

Willst du die Mitarbeiter der Generation Z bei Laune halten? Hire a ‚Generational Consultant‚ von Jazmine Hughes (New York Times)

„Der ‚Dating-Markt‘ wird immer schlimmer“ von Ashley FettersKaitlyn Tiffany (The Atlantic)

 

 

Ich schaue:

 

Terry Real über Selbstwertgefühl und Depressionen

„Kein Thema“ von Miriam Aziz

„End Game“ – ein Dokumentarfilm über die Pflege am Lebensende

 

Ich höre:

 

Adam Grant über den Umgang mit Idioten am Arbeitsplatz

 

 

 

Last Updated on November 22, 2021 by Dr. Ruth Mischnick