Bewegliche Achtsamkeit: Ansatz zur körperlichen Schmerzbehandlung

Ein Gespräch mit der Feldenkrais-Therapeutin und Gesundheitsbotschafterin Dr. Ruth Mischnick

Mitte des 20. Jahrhunderts nutzte der Physiker Moshe Feldenkrais die Theorien der Physik, der Biomechanik und der menschlichen Entwicklung, um eine Reihe von sanften Bewegungen und gezielter Aufmerksamkeit zu entwickeln, die den Menschen helfen, ihren Bewegungsspielraum, ihre Flexibilität und ihre Koordination zu verbessern. Durch die Verbindung von Gehirn und Körper – dem zentralen Nervensystem – wird die Methode heute in vielen Rehabilitationspraxen zur Schmerzbehandlung eingesetzt.

 

Isabella Bauer: Wie würdest du die Feldenkrais-Methode beschreiben?

Dr. Ruth Mischnick: Die Feldenkrais-Methode nutzt einzigartige Bewegungsabläufe, um das Bewusstsein zu verbessern, schädliche Gewohnheiten aufzulösen und das Nervensystem zu regulieren. Wir werden als neugierige Entdecker geboren, die mit einem Sinn für Potenzial ausgestattet sind. Mit diesen angeborenen Eigenschaften tasten wir uns buchstäblich durch die wesentlichen Entwicklungsschritte. Während wir uns die Grundlagen des Lebens aneignen, erleben wir auch Stress, Traumata oder Verletzungen. Solche Ereignisse können unser sensorisches System dämpfen und uns oft in einen Überlebensmodus versetzen, anstatt in den neugierigen, spielerischen Modus, mit dem wir geboren wurden. Wenn wir heranwachsen und immer mehr in den Anforderungen von Schule, Arbeit und Pflege anderer Menschen gefangen sind, entfernen wir uns oft immer weiter von unserer sensorischen Welt. Mit dem Feldenkrais-Ansatz versuchen wir, diese frühen Lernfähigkeiten wiederzubeleben, denn das ist das angeborene Betriebssystem, mit dem wir nicht nur Probleme lösen, sondern auch neue Möglichkeiten eröffnen können.

In meinen Praxen in Bonn und Graz biete sowohl Einzelsitzungen als auch Gruppensitzungen an. In den Einzelsitzungen arbeitet ein Therapeut mit einer Person zusammen, um seine Ziele und Interessen zu erkunden. Die Person beginnt, sich selbst auf neue Weise zu spüren und mehr Leichtigkeit in der Bewegung zu entdecken.

Der Gruppenunterricht auch im Online-Format wird verbal angeleitet und jede Klasse ist anders. Anders als beim Yoga gibt es keine „Form“ oder „Haltung“ zu meistern. Stattdessen werden die Schüler/innen durch eine Reihe neuartiger Bewegungen geführt, die ihre Neugierde wecken und ihnen verdeutlichen, wie ihr Körper funktioniert (siehe ein Beispiel für eine Schulterbewegung auf YouTube).

Ob in der Gruppe oder im Einzelunterricht, der Schwerpunkt liegt auf Komfort und Respekt. Ich lehre nicht die „richtige“ Art, sich zu bewegen. Ich unterstütze dabei, leichtere Bewegungsabläufe zu finden. Das Motto: „Weniger Schmerz, mehr Gewinn“.

 

 

Isabella Bauer: Der Feldenkrais-Ansatz hilft nachweislich nicht nur bei der Bewusstheit und Funktionalität, sondern wurde auch als Behandlungsansatz für Schmerzen im unteren Rückenbereich untersucht. Bei welchen anderen chronischen Schmerzzuständen könnte die Feldenkrais-Praxis helfen?

Dr. Ruth Mischnick: Chronische Krankheiten können sehr belastend sein. Es kann schwer sein, sich daran zu erinnern, dass es mehr im Leben gibt als die Diagnose. Aber in fast allen Situationen gibt es noch viel mehr. Wir können sagen, dass die chronische Herausforderung nur eine von vielen ist und das Leben eines Menschen nicht bestimmen muss – selbst wenn die Herausforderung extrem ist.

Bei jeder chronischen Erkrankung wird das Leben zunehmend eingeschränkt. Die Person hat vielleicht das Gefühl, nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens zu stehen. Stattdessen scheint sich ihr Leben nur noch um die Krankheit, die Behandlung oder die Einschränkungen zu drehen. Mit der Feldenkrais-Methode heilen wir nicht. Stattdessen helfen wir den Menschen, sich wieder in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen, so dass sie selbst entscheiden können. Das führt in der Regel zu einer Verringerung der Schmerzen, einer Verbesserung der Bewegungsabläufe und – was vielleicht noch wichtiger ist – zu mehr Freude, ja sogar Vergnügen.

Die Methode kann bei jedem Prozess helfen, der die normale Mobilität unterbricht. Ein Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma (TBI), die Parkinson-Krankheit oder Multiple Sklerose (MS) sind nur einige Beispiele. Feldenkrais kann auch bei Hypermobilitätsproblemen wie dem Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) hilfreich sein, wenn eine Person zu viel Bewegung hat und Wege zur Stabilisierung finden muss. Ich habe auch einige Ärzte kennengelernt, die Patienten zur Behandlung des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS) an die Methode verweisen.

Wir behandeln auch eine Reihe von psychologischen Problemen, bei denen das traditionelle Modell aus irgendeinem Grund nicht den Bedürfnissen der Patienten entsprach und somatische Schmerzen verursachen.

 

Isabella Bauer: Wo können sich Patienten in dieser Methode schulen lassen, um sie zu Hause zu praktizieren, einschließlich Online-Optionen, wenn sie in ihrer Mobilität eingeschränkt sind?

Dr. Ruth Mischnick: Natürlich ist das meiste besser, wenn man es persönlich erlebt. Im deutschsprachigen Raum kann man über Online-Formate Videos und Audio-Lektionen finden, mit dem man arbeiten kann.

Auf YouTube gibt es unzählige kurze Feldenkrais-Lektionen. Ich habe, wie andere auch, einen eigenen Kanal mit kurzen Lektionen, die einen guten Vorgeschmack auf „Bewusstheit durch Bewegung“ geben. Ich biete auch Live-Online-Kurse an. Diese sind vielleicht etwas schwieriger zu finden, aber wenn man einer Facebook-Gruppe wie Let’s Do Feldenkrais Today! beitritt, kann man nach Ideen fragen. Und dann gibt es noch aufgezeichnete Online-Kurse, die du in deinem eigenen Tempo besuchen kannst. Meine Praxis bietet zum Beispiel Mitgliedschaften für Anfänger und Fortgeschrittene an.

 

 

Isabella Bauer: Warum ist deiner Meinung nach ein Körper-Geist-Ansatz (im Gegensatz zu einem dieser Ansätze allein) am wirkungsvollsten im Umgang mit Schmerzen?

Dr. Ruth Mischnick: Die Forschung ist zu diesem Thema eindeutig. Es hat sich gezeigt, dass ein bio-psychosozialer Ansatz (der Körper, Geist und sozioökonomische Faktoren einbezieht) die besten Ergebnisse bei chronischen Schmerzen erzielt. Das Schöne am Feldenkrais-Ansatz ist, dass er wirklich ein bio-psychosozialer Ansatz ist und daher in einem Genesungsplan äußerst nützlich sein kann.

Chronische Schmerzen verändern den inneren und äußeren Ausdruck des Lebens ziemlich schnell. Neuroplastizität, d.h. die Fähigkeit des Gehirns, sich in Struktur und Funktion zu verändern, ist eine wunderbare Sache, wenn wir etwas lernen, das wir lernen wollen. Aber sie kann auch negative Folgen haben, denn wir können auch besser darin werden, nach Schmerzen zu suchen, Schmerzen zu produzieren, mehr Angst vor Bewegung zu haben oder steif zu werden. Wir wissen heute, dass das Gehirn eine der Hauptursachen für chronische Schmerzen ist.

Mit der Feldenkrais-Methode wollen wir jedem Einzelnen helfen, diese Gehirnleistung zum Guten zu nutzen.

 

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Dr. Ruth Mischnick ist Coach und Bewegungstherapeutin.

Last Updated on April 10, 2022 by Dr. Ruth Mischnick