Belastung, Körpergedächtnis und das Prinzip Achtsamkeit im Covid Kontext
Draußen wird es dunkel, und die Zahlen steigen. Kaum jemand wagt es zu sagen, aber die Kraft lässt nach. Ich kenne einige Möglichkeiten, die Welle ohne Schäden zu überstehen.
Anleitung zum Überleben ohne Schäden
Und in den Wohnungen sitzen die Menschen, und die Dunkelheit steht für Monate bevor. Da gibt es kaum Sondersendungen oder Zeitungsbeilagen darüber, wie man das überstehen kann. Außer dazu, wie man Brot backen kann, gibt es wenig Anleitung zum Überleben ohne Schäden auf engem Raum. Allein oder mit Leuten, die man sonst selten sieht.
Falls sich dein Leben in den vergangenen Monaten nicht zum Guten verändert hat. Falls du nicht abends in einen Tiefschlaf fällst, weil du mehr arbeiten musst als früher, falls du also im dauernden Homeoffice sitzt, oder ohne Arbeit bist, falls du zunehmend nervöser und gereizter wirst, gibt es einige Möglichkeiten, die du probieren könntest.
In meiner Arbeit hat es sich bewährt, auf die Überlegungen von Peter Levine zurückzugreifen, der als erster die Zusammenhänge zwischen Belastung und Stammhirnaktivitäten nachgewiesen hat.
Levine empfiehlt, in der Behandlung von Menschen, die extrem Belastendes erlebt hatten und dabei in Schock (»freezing«) gingen, das Augenmerk auf die Notwendigkeit einer Stammhirnaktivierung zu richten. Diese Aktivierung leistet der Organismus von selbst, aber vieles, was wir tun, verhindert diesen Selbstheilungsmechanismus. Besonders hilfreich erlebe ich auch seine Empfehlung, beim Körpererleben zu bleiben. Angst, so meint er, sei oft nur ein »Konzept«.
Durch die Konzentration auf dieses »Konzept« verstärke sich dann die Angst und deren Körperäquivalente. Leitet man die Patienten an, sich nur auf den Körper zu konzentrieren, führt das häufig zu einer raschen Beruhigung.
Achtsamkeit
Letzten Endes verwendet er die sehr alte buddhistische Übung des achtsamen Wahrnehmens.
Achtsamkeit gilt, in der buddhistischen Psychologie, als Weg zur Heilung. Zum Prinzip Achtsamkeit gehört auch das Prinzip Nichturteilen oder auch Nichtbewerten. Es mag einleuchten, dass unser gewohnheitsmäßiges Beurteilen/Bewerten, z. B. von Angst, diese verstärken kann.
Dagegen mag ein nicht beurteilendes, achtsames Umgehen Veränderungen, die ohnehin immer im Organismus ablaufen, verstärkt ins Bewusstsein bringen. Ohne dass es sofort ausgesprochen werden muss, verstärkt achtsames Wahrnehmen auch das Vertrauen in den Körper und dessen Fähigkeit, sich zu wandeln. Im weiteren Therapieverlauf kann die Patientin dann aus ihren eigenen Erfahrungen die erforderlichen Rückschlüsse ziehen.
Ich meine, dass eine achtsame Arbeit mit dem Körper, bei der es vor allem ums Spüren geht, die beste Form der Körperarbeit mit und für hoch belastete Menschen darstellt. Der Körper ist der Ort der Belastung. Wir müssen ihn mit einbeziehen. Jeder Ansatz zur Besserung, der Erfolg zeitigen soll, wird Wege finden müssen, den Körper mit einzubeziehen.
Viel hilft viel?
Man kann den Körper sehr sanft an das Belastende heranführen, und auch dies führt zu einer Auflösung der Belastungsfolgen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass heftige Abreaktionen den Weg einer Therapie bestimmen. Heute bin ich mir sicher: Je sanfter, desto besser.
Auch extrem Belastete können auch die Möglichkeit haben zu erfahren, dass ihr Körper trotz aller schrecklichen Erfahrungen ein Ort der Freude ist und voller Energie. In den letzten Jahren fand ich die Arbeit von Julie Henderson, die von der tibetischen Heilkunde beeinflusst ist, sowie die Breema-Körperarbeit und das Qigong besonders hilfreich.
Julie Hendersons Übungen sind besonders vergnüglich: Sie empfiehlt bewusstes Gähnen, Lachen, Prusten, »dumm daherreden« und vieles mehr. Auch sie betont, wie wichtig es ist, diese Übungen nur zu machen, wenn man Lust darauf hat. Der Titel ihrer Arbeit lautet bezeichnenderweise »How to feel as good as you can inspite of everything«.
Es gibt ihr Büchlein auch in deutscher Übersetzung. Ich mache ihre Übungen gerne zwischendurch zur Psychohygiene, weil sie so leicht und spielerisch sind. Eine Forschergruppe konnte nachweisen, dass die Konzentration auf eine andere körperliche Ausdrucksweise mittels der Übungen von Henderson allein zu einer Veränderung von Gefühlen und Befindlichkeiten führen kann.
Feldenkrais als Möglichkeit aus der Belastung auszusteigen
Auch Feldenkrais ist genial, wenn es um extreme Belasungen geht. Um mit der Selbstregulation, der Freude in Kontakt zu kommen, wird die Achtsamkeit bei Feldenkrais auf das Körpergewahrsein gelenkt. Das geschieht über die spürende Körperwahrnehmung, die bewußte Belebung von Ressourcen und die Befreiung der nicht genutzten Energie im Körper.
In meiner Praxis wird hierbei behutsam in kleinen Schritten vorgegangen. Gerade jetzt bei den aufgrund Belastungsmomenten rund um Isolation und Müdigkeit wegen des Covid-Kontextes.
In dieser Form der Auflösung von Belastungen können alle Dimensionen menschlicher Erfahrung einbezogen werden, um die ursprünglichen, pulsierenden und alles verbindenden Fluss der Lebensenergie wiederherzustellen. So hilft diese Lernmethode, in den natürlichen Rhythmus zurück zu finden und sich auf diese Weise im Hier und Jetzt zu verankern.
Die Veränderung im Verhalten von Klienten – Sicherheit in der Gegenwart zu entwickeln – ist aber dennoch kein Selbstläufer. Was insbesondere zu einer gelungenen Zusammenarbeit gehört, ist gegenseitiges Vertrauen!
Abschließende Gedanken
Wenn du noch Kraft hast, nimm Kontakt zu deinem Körperempfinden auf. Mache Feldenkrais oder „Embodying well-being“. Falle nicht ins TV-Koma. Sei nett zu dir, zu anderen, rede nicht über die Pandemie. Versuche, nicht wütend zu sein. Denn das macht keine gute Laune.
Und noch einmal: Bleibe freundlich. Zu allen. Denn es geht den meisten gerade ebenso.
Last Updated on November 18, 2021 by Dr. Ruth Mischnick
Danke für den bereichernden Artikel. Ich würde mir eine gute Begleitung wünschen. Könnte das auch ein Vorschlag sein?
Liebe Karin, wie genau stellst du dir eine Begleitung vor?
„Je sanfter desto besser“ dies kann ich nach vielen Jahren Qi Gong und Feldenkrais voll bestätigen. Und immer wieder muss ich mir in Erinnerung rufen, dass dies auch – über diese Übungen hinaus – für alle Lebensbereiche gilt und uns – besonders in dieser Zeit – hilft, nicht im Geist und Körper zu verhärten.
Danke für den Beitrag.
Hansjörg
Danke für diese Auffrischung meiner leider verlorenen Gedanken! Irgendwie ist man nur noch müde. Aber ich werde wieder mehr Achtsamkeit an den Tag legen und auf meinen Körper hören! Werde wieder in die Meditation einsteigen! Bleiben Sie gesund!
Liebe Ruth,
danke für diesen Artikel.
Als Ergotherapeutin gab ich viele Stunden Feldenkraislexionen und auch die chinesischen Bewegungsmeditationen sind mir aus eigener, beinahe täglicher Praxis vertraut. Meine Freundin und ich treffen uns fast täglich – und dies – beinahe 2Jahre – zu einer Stunde Falun-Gong in unserem Zoom Raum an deinem Homeoffice Artikel schreibst 😉
Doch wir sind Rentnerinnen, Zeit-Millionärinnen , offen und wach für neue Herausforderungen 🙂
Anfangs der Pandemie hatte ich große Angst, mit der ich regelmäßige Treffs veranstaltete, bis ich sie integriert hatte, diese Angst.
Eckard Tolle spricht von der Angst für mich die wahrsten Worte: diese gibt es nur, wenn ich mich nicht im momentanen Augenblick befinde.
Ich bin davon überzeugt dass in diesen Krisenzeiten Bewegung in der Natur. Immunstärkung und aufrichtige, achtsame, ehrliche Kommunikation mit anderem Menschen sehr sinnvoll sind. Angepasst an Mainstreamhaltung und Angst vor Ansteckung sind für mich Faktoren, die gegen menschliche Würde und Autonomie gehen.
Zum Glück leben wir in einem Land, in dem Andersdenker nicht mit Gewalt sanktioniert werden. Das ist mir bewusst.
Doch die Menschen sind nach meinem Eindruck an Achtsamkeit, kluges, konstruktives Selbstdenken und respektvolle Kommunikation weniger gewöhnt als an Medienberieselung, Cautschpotatootum, Konsum und andere depressive Kompensationsformen. Für mich ist der Neurobiologe Gerald Hüther richtungsweisend.
Ich könnte noch einiges zum Thema sagen und finde es gut, dass du dazu schreibst.
liebe Grüße
Irina
Liebe Frau Mischnick
vielen Dank für den wunderbaren Artikel.
In diesen Zeiten ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, für alles, was uns vielleicht schon gar nicht mehr auffällt, weil es normal geworden ist, dankbar zu sein. Sei es das fließende warme Wasser aus der Wasserleitung oder ein Dach über dem Kopf….
Dankbarkeit lässt das Leben wieder wärmer werden.
In der Starre zu verharren, ist sicherlich keine gute Idee…Bewegung, ja, sanft sollte sie sein und regelmäßig. Liebevoll und achtsam auf sich und andere achten, sind wichtige Aspekte, um sich in seinem Umfeld und mit sich selbst wohl zu fühlen.
Liebe Grüße
Reinhilde