Wen ich würgen würde. Fortsetzung des Interviews von Wera Reusch mit Dr. Ruth Mischnick. Grauzonen der Altenpflege – Perspektive einer Abgehörigen.

 

Wera Reusch: Worauf sollten Angehörige achten, die eine Einrichtung suchen?

 

Ich glaube, dass man eine Einrichtung eigentlich nicht wirklich kennen lernen kann, ohne selbst Bewohner gewesen zu sein, und das ist natürlich nicht möglich.

Ganz wesentlich sind sicherlich der Personalschlüssel und die Kommunikationswilligkeit aller Beteiligten.

Man sollte darauf achten, ob es institutionell vorgesehene Sprechstunden gibt, ob es Rückmeldeschleifen des Personals und Feedback an die Angehörigen gibt.

Auch die Zufriedenheit der Pflegenden ist ein guter Indikator.

Zertifikate sind meines Erachtens kein Garant dafür, dass eine Einrichtung gut ist.

Denn diese Zertifikate beziehen sich auf Kriterien, die für den Einzelnen dort nicht wesentlich sind.

 

Wera Reusch: Ist es auch ein Indiz, ob man als Angehöriger auf Augenhöhe behandelt wird? Das könnte man ja relativ früh feststellen…

 

Das könnte so sein. Allerdings gibt es in der Anfangsphase häufig eine Kommunikationswilligkeit.

Die lässt dann aber nach, bzw. gilt eben nur für den Anfang der Betreuung in einer Einrichtung. Wenn sie aber zu Beginn schon nicht existiert, ist dies definitiv ein Alarmzeichen.

Ein weiteres Alarmzeichen ist die Mitteilung, dass nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gehandelt wird.

 

Wera Reusch: Unterscheiden sich die Träger oder stehen mittlerweile alle Einrichtungen unter ökonomischem Druck?

 

Die Einrichtung meines Vaters ist eine private Einrichtung, die Zertifikate hat. Aber vielleicht ist es ja auch ein Alarmzeichen, dass die Geschäftsführung mit einem Porsche Cayenne vorfährt?!

Es ist wahnsinnig schwierig, diese Frage übergreifend und abschließend zu beantworten.

Ich glaube, es hat nichts mehr mit dem Träger zu tun, sondern hängt von der konkreten Person ab, die die Einrichtung leitet. Das Menschenbild, das dahintersteht, spielt auch eine Rolle.

Aber ich glaube nicht, dass es für den einzelnen Patienten wirklich von Bedeutung ist, ob die Träger Kirchen sind, die ihr Kreuz haben, oder die anderen, die ihr Geld, ihren Mammon, haben.

 

Wera Reusch: Wie haben Sie die Auswahl der Einrichtung getroffen?

 

Angehörige haben im Zeitpunkt der Auswahl viele Herausforderungen zu bestehen.

Zum einen ist da die starke Beschäftigung mit dem Schicksalsschlag, der bedeuten kann, dass man sich mit dem möglichen Tod und extremem Leid auseinander setzen muss.

Auch eigene Ängste beeinträchtigen die Wahrnehmung.

Und dann: Meistens hat man gar nicht die Wahl, ob man sich für A oder B entscheidet, sondern es hängt zum Beispiel davon ab, ob die Einrichtung in der Nähe liegt, ob sie für die Angehörigen gut erreichbar ist.

In unserem Fall war es außerdem so, dass die Krankenkasse sowohl im Krankenhaus als auch in der Reha vorgegeben hat, dass meinem Vater innerhalb von einer Woche gekündigt wurde.

Außerdem dauert es, bis man die Strukturen durchschaut hat, und dass man dann noch einmal wechselt, ist unwahrscheinlich.

Und wäre die nächste Einrichtung dann wirklich besser?

Ein Hoffnungsschimmer ist, wenn die Einrichtung sich freiwillig der Charta der Rechte pflege- und hilfbedürftiger Menschen verpflichtet sieht:

Pflege Charta

 

Wera Reusch: Muss man als Angehöriger ständig vor Ort sein, um die Arbeit der Einrichtung zu kontrollieren?

 

Die Präsenz von Angehörigen macht definitiv einen Unterschied.

Ich besuche meinen Vater auch deshalb so häufig, weil ich die Dinge wahrnehmen möchte, die in der Einrichtung vorgehen. Eine gewisse Kontrolle ist nötig.

Sie muss jedoch immer sanft geschehen, denn wenn ich als Angehörige in die Konfrontation gehe, Personal direkt auf Fehler hinweise, werde ich aus der Kommunikation ausgeschlossen.

Es ist nur möglich, sich wohlwollend um die Pflegekräfte zu bemühen, damit mein Vater nicht als Objekt, sondern als Mensch behandelt wird.

Ich versuche deshalb, einen gemeinsamen Nenner zu finden, der seinem Wohl dient, aber dahinter steckt natürlich der Aspekt, dass ich so Fakten zur Kenntnis erhalte, die Entscheidungen meinerseits ermöglichen.

 

Wera Reusch: Angehörige müssen also zusätzlich zu den Sorgen, die sie sowieso haben, auch noch die Beziehungen zu den Pflegekräften regulieren…

 

Ja, das ist ein hoher energetischer Aufwand! Im Falle meines Vaters lohnt es sich allemal.

Aber neben der Angst um seine Gesundheit und sein Leben kostet das am meisten Energie – ständig Handlungsbedarf zu sehen, aber nicht in die direkte Regulation gehen zu können, sondern immer indirekt handeln zu müssen, weil sonst kein Kontakt mit dem Pflegepersonal mehr stattfindet.

 

Wera Reusch: Wie hat sich die Beziehung zu Ihrem Vater unter diesen Umständen verändert?

 

Die Beziehung zu meinem Vater ist eine sehr besondere geworden.

Als Trauma-Expertin habe ich sehr wohl gespürt, dass die Übergriffe ihn von Anfang an sehr belastet haben, und das wollte ich irgendwie erträglicher machen.

Er hat ja auch um sein Leben gekämpft.

Er ist ruhiger, wenn ich anwesend bin, für ihn bin ich eine Konstante, die seine Angst vermindert.

Das Krankheitsbild ist ja so, dass er immer wieder an den Punkt kommt, dass er glaubt, er erstickt.

Mein Vater kann mir, auch ohne zu sprechen, genau mitteilen, was seine Wünsche sind.

Auch unser Schweigen hat eine Bedeutung.

Auf beiden Seiten ist ein Vertrauen gewachsen, das sehr authentisch und intensiv ist.

Das ist extrem schön, anspruchsvoll, aber sozusagen auch eine Belohnung für uns beide. Es geht vielleicht sogar in eine metaphysische, spirituelle Richtung.

Es ist eine besondere Form der Liebe.

 

Wera Reusch: Kann man das alleine leisten oder braucht man Unterstützung?

 

Man kann das alleine nicht stemmen. Das geht sicherlich sechs oder acht Wochen lang gut, aber über diese lange Zeit braucht man Beistand von anderen.

Neben Freunden, die einen unterstützen, würde ich immer für eine professionelle, bzw. institutionelle Unterstützung plädieren und zwar regelmäßig.

Damit meine ich Selbsthilfegruppen von Angehörigen, die das Gleiche erfahren haben.

Da fällt die Schwelle weg, erklären zu müssen, was es eigentlich bedeutet jemanden in dieser Form zu begleiten, und es gibt sehr viele Erfahrungen, die wertvoll sind.

Wir müssen nicht alle die gleichen Fehler machen.

Es geht um Spezialfragen, die sich immer in den Zonen zwischen Leben und Tod abspielen, die schwer auszuhalten sind, und mit denen man seine Freunde nicht jeden Tag belasten kann.

Aber ohne Freunde, die sagen, mach mal eine Pause, und die dir auch mal ganz pragmatisch den Kühlschrank füllen, kann man es nicht durchhalten.

Ohne soziales Netz kann man diese Zeit nicht überstehen.

 

Wera Reusch: Halten Sie es für möglich, dass Angehörigen mit der Zeit Symptome aufweisen, wie zum Beispiel Depressionen?

 

Die Reaktionen der Angehörigen zeigen sich schon sehr früh.

Wenn der Kranke durch Schwankungen geht, dann geht man als Angehöriger mit durch diese Schwankungen – wie auch immer.

Manche ziehen sich zurück, weil das Ganze so belastend ist, andere gehen vielleicht zu nah heran, was auch nicht gut ist.

Da muss man eine Balance finden. Wenn jemand sich entscheidet, zu begleiten, ist es wesentlich, gut auf sich achtzugeben und anderen zu erlauben, beobachtend da zu sein, damit keine totale Erschöpfung eintritt.

Es ist sehr, sehr wichtig, für andere Stimmen zugänglich sein, sonst kollabiert man irgendwann.

Ich war auch am Rande meiner Kräfte, bis Freunde mir gesagt haben: So, jetzt ist aber Schluss.

Darauf muss man hören, anstatt zu sagen: Ich kann noch, ich schaffe das.

In manchen Phasen ist es leichter, sich zurückzuziehen, in manchen Phasen schwerer.

Wenn es meinem Vater schlecht ging, war es mir nicht immer möglich, mich zurückzuziehen, aber man muss irgendwann den Punkt finden, auch für sich selbst zu sorgen.

 

Wera Reusch: Wie kann man mit Verantwortungs- und Schuldgefühlen umgehen?

 

Für mich war wesentlich, dass ich das Schicksal meines Vaters nicht verändern kann.

Von Anfang an waren mein Leitgedanke und auch meine emotionale Haltung, dass ich nicht eingreifen kann, um dieses Los zu beeinflussen.

Was ich beeinflussen kann, ist die Lebensqualität, die er im Moment hat, und dafür zu sorgen, dass sein Leben noch mit Würde zu tun hat.

Ich habe jede Nacht geschlafen, obwohl es Dinge gab, die wirklich mit der Frage des Überlebens zu tun hatten. Mir hilft das Wissen, er ist und fällt in Gottes Hand.

Ich bin ein kleines Rädchen unter den Lebendigen, aber ich kann das Schicksal nicht verhindern.

Das hat mich entlastet, und ich glaube, das ist auch ein wesentlicher Gedanke, der mich das über diese lange Zeit hat durchhalten lassen.

Aber Belastungen sind da, und das kann ich mit meinem Vater auch kommunizieren.

Das lässt sich schwer in Worte fassen, aber diese spirituelle Dimension, die hat er erfasst, mit mir gemeinsam. 

 

Wera Reusch: Was ist für Angehörige vordringlich? Was muss die rote Linie sein, an der man sich orientiert?

 

Man kann Turbulenzen nicht verhindern, man kann sie nicht wie an einem Pegel abmessen.

Wichtig ist, dass ich als Angehörige nicht selbst umfalle, und da ist Selbstsorge das Vordringlichste, so merkwürdig sich das anhört.

Es ist ganz wesentlich, sich gleichzeitig um sich selbst kümmern zu dürfen – ohne Schuld oder schlechtes Gewissen.

Das gerät auch mal in Vergessenheit, aber wenn es eine rote Linie gibt, dann das.

Man sollte es als gemeinsames Leben sehen im Sinne von: Er hat seins, ich hab meins, wir berühren uns an einigen Stellen als Vater und Tochter sehr intensiv, aber nicht umfallen – trotz aller Turbulenzen.

Und als letzten Hinweis: Es geht nur mit Humor.

In der aussichtslosesten Lage geht es nur, wenn man irgendeinen Funken von Humor damit verbinden kann – auch wenn er schwarz ist.

 

 

 

 

Last Updated on Februar 2, 2022 by Dr. Ruth Mischnick